Wenn ich an das Deutsche Weinlesefest in Neustadt denke, kommt mir immer ein recht böser Gedanke in den Kopf: „Was für eine Provinzkerwe!“ Als ich jetzt eine Stunde mit dem Pfälzer Spitzenwinzer und Präsidenten des Verbands Deutscher Prädikatsweingüter (VDP)

Mit Sanduhr: RHEINPFALZ-Redakteur Rolf Schlicher (links) und Steffen Christmann. Foto: LM
Steffen Christmann zusammensaß, musste ich ihn natürlich auch auf das Weinlesefest ansprechen. Denn Christmann ist Neustadter und in seiner Heimatstadt auch kommunalpolitisch aktiv gewesen. Dieses Engagement beschert ihm seit 2014 den Job des Aufsichtsratsvorsitzenden bei der Neustadter Tourist, Kongress und Saalbau GmbH (TKS). Und diese Gesellschaft ist auch für das Konzept und die Ausgestaltung des Deutschen Weinlesefestes zuständig. Endlich also konnte ich meine Kritik loswerden.
Es war genau eine Stunde, die ich mit Christmann redete. Unser Treffen war der Auftakt einer neuen RHEINPFALZ-Gesprächsreihe mit dem Titel „Eine Stunde mit …“ Darin sollen Pfälzer und Rheinland-Pfälzer – mal prominent, mal weniger prominent – zu Wort kommen. In der Redaktion hatten wir uns eine Besonderheit überlegt: Der Gesprächspartner darf sich jeweils den Ort für diese Unterhaltung aussuchen – einzige Bedingung: Es sollte nicht bei ihm zu Hause oder bei uns in der Redaktion sein. Christmann wählte den „Idig„. Das ist eine der Spitzenlagen seines Weinguts – ein Südhang beim Neustadter Ortsteil Königsbach. Der Winzer hatte zwei Stühle und einen kleinen Tisch in seinen Landrover gepackt und dorthin mitgebracht. Und natürlich eine Flasche Riesling vom „Idig“. Ich hatte auch etwas im Gepäck: die nagelneue RHEINPFALZ-Sanduhr. Sie läuft genau eine Stunde. Also fast genau: 59 Minuten und 57 Sekunden. Ein, zwei Sandkörner wurden beim Füllen des Glaskolbens offenbar vergessen.
Ich fiel nicht gleich mit der Tür ins Haus. Wir plauderten erst über Fleischwurst, Gerüche, Kindheitserinnerungen, Discounter, Bier, sein Jurastudium. Dann war es soweit. „Wissen Sie Herr Christmann“, begann ich, „ich stelle mir immer vor, Menschen in Hamburg, München oder Stuttgart sehen bei sich die Werbeplakate für das Deutsche Weinlesefest. Und lassen sich dafür begeistern, sagen sich: Das wäre doch einmal ein netter Ausflug. Dann reisen sie mit dem Zug an und steigen in Neustadt am Bahnhof aus. Und landen mitten in einer Vorstadtkerwe, die auf den Bahnhofvorplatz gepresst wurde. Das Riesenrad steht beispielsweise wie ein Baukran auf den Bussteigen…“
Christmann hörte mir zu. Mal schmunzelnd, mal stirnrunzelnd. Um dann zu sagen: „Wir sind schon dabei uns Gedanken zu machen, das Ganze muss besser werden.“ Aber es könne ja nicht alles schlecht sein, wenn es einem Fest gelinge, jeden Tag rund 3000 Menschen ins Weindorf zu locken und rund 100.000 Zuschauer zum Winzerfestumzug anzuziehen.

Winzerfestumzug in Neustadt. Foto: dpa
Jetzt runzelte ich etwas mit der Stirn. Doch Christmann fuhr fort: „Ich bin überzeugt, dass wir da noch viel mehr herausholen können.“ Neustadt sei viel zu schön und viel zu groß, als dass sich das Weinfest nur am Bahnhof abspiele müsse. Neustadt mit seinen großartigen Gassen und dem wunderbaren Markplatz habe die Orte für spannende Weinthemen – auch in qualitativer Hinsicht. Ich dachte mir: Mal sehen, wohin das Riesenrad rollen wird.
Was Christmann mir über Fleischwurst, Gerüche aus einem alten Hotel am Genfer See, seine Einkäufe beim Discounter, sein Verhältnis zu Bier erzählt hat, steht in der Auftaktfolge zu „Eine Stunde mit …“ Diese Stunde mit Christmann hätte gerne länger sein können. Es gab noch so viele Fragen. Aber die RHEINPFALZ-Sanduhr ist unerbittlich: 59 Minuten, 57 Sekunden – und Schluss.
Kein Einheimischer sagt „Deutsches Weinlesefest“ sondern „Neustadter Weinfest“. hat wohl seinen Grund. Zu den Ideen von Christmann: Alles schon mal ausprobiert. War nix.